Entbehrliche Gewohnheiten

Die besten Vorsätze sind schnell vergessen

Es gibt Tage, auf die ich gut und gerne verzichten könnte. Gestern zum Beispiel: Als ich mit zwei Tüten voller Einkäufe in der Hand und den Büchern aus der Bibliothek unter dem Arm die Wohnungstür aufdrücken wollte, beendete die Schwerkraft meinen Vorwärtsdrang und ich landete recht unsanft auf der entliehenen Literatur. 

Der Autoschlüssel in der Hosentasche hatte sich schmerzhaft in den Oberschenkel gebohrt und der Ellenbogen fühlte sich auf den Terrazzo-Fliesen des Flurs ebenfalls unbehaglich, ansonsten war scheinbar alles heil geblieben. Da kein Grund zu verharren vorlag, erhob ich mich wieder zur vollen Größe und nachdem der leichte Schwindel verflogen war, holte ich noch die Flaschen aus dem Auto.

Am nächsten Morgen jedoch verhielt sich der Arm beim Zähneputzen etwas eingeschränkt und nach der Dusche zeichneten sich die Auswirkungen des gestrigen Sturzes in tiefem Violett und eher unattraktivem, gelblichen Grün im Spiegel ab. Das Farbenspiel wäre noch erträglich gewesen, doch die Einschränkung durch die dumpf schmerzende Schwellung am Oberschenkel ermunterte mich, die Nummer meiner lieben Freundin Claudia zu wählen. 

Als das monotone Tuten durch ihre energiegeladene Begrüßung beendet wurde, begann für mich schon wieder die Sonne zu scheinen. „Klar,“ sagte Claudia entschlossen, „komm’ einfach vorbei. Die Praxis ist heute zu, da habe ich sofort Zeit für dich.“

Nachdem sich die beste aller Hausärztinnen um die Behebung des Schadens verdient gemacht hatte, musterte sie mich mit prüfendem Blick, ehe sie auf den Punkt kam: „Du hast wieder zugenommen?“

Claudias klarer Blick auf die Dinge kann jedem schlechten Gewissen noch eines drauf setzen. Ansatzlos setzte ich zur Verteidigung an: „Der Stress in der Arbeit, die drei Tage auf der Konferenz, dann die Hochzeit von Agathe …“ Claudia wirkte, als hätte sie das schon einmal gehört: „… und das hat deine Euphorie nach den ersten Erfolgen verfliegen lassen. Mach’ dir keine Sorgen, Franzi, das ist die ganz normale Krise, in die jeder stolpert, der etwas in seinem Leben ändern möchte. Hast du etwas Zeit? Dann erzähle ich dir mehr davon.“

Natürlich hatte ich Zeit, vor allem für die klaren Worte von Frau Doktor bei einem überaus beruhigenden Thymian-Tee in ihrer Besprechungsecke:

„Gewohnheiten bestimmen den Großteil unseres wachen Tagesablaufs. Zwei Drittel unseres Lebens bestehen aus eingespielten Abläufen, die uns helfen, den Alltag zu bewältigen. Einige dieser Gewohnheiten würde man gerne ablegen und auch das Annehmen neuer Gewohnheiten fällt häufig schwerer als gedacht. Je nach Persönlichkeit kann dieser Prozess zwischen 18 und 254 Tage dauern.“

Claudia nahm einen Schluck Tee, was mir etwas Zeit gab, ihre Worte zu reflektieren: „Du meinst, die Gewohnheit, etwas zu essen, wenn Druck aufkommt, könnte über ein dreiviertel Jahr immer wieder dazwischen funken, wenn ich abnehmen möchte?“ Ich fühlte, wie sich meine Stirn in fragende Falten legte und hörte das kratzende Timbre der Verzweiflung in meiner Stimme. Mit einem verständnisvollen Lächeln bemühte sich Claudia um mein angeknackstes Selbstvertrauen:

„Die neuere psychologische Forschung gibt uns wertvolle Methoden, um Gewohnheiten neu zu formen. Dabei unterscheidet sie die ‚episodische’ und die ‚programmierte‘ Erinnerung. Während einzelne Ereignisse episodisch relativ aufwendig erinnert werden können, zum Beispiel die Führerscheinprüfung, ist die programmierte Erinnerung ein Rezept, das durch Wiederholung immer unbewusster abläuft. Wenn man sich die tägliche Tasse Tee am Morgen brühen will, muss man sich nicht an den Ablauf ‚erinnern‘, man macht einfach ohne Anstrengung eine Tasse Tee.“

Offenbar wollte meine Freundin darstellen, dass das „In mich hinein schaufeln“ ein automatisierter Ablauf war, der unter gewissen Umständen einsetzte, ohne dass ich mir darüber bewusst war. Mein Gedankengang blieb nicht verborgen und nachdem sie ihre Tasse mit leisem Klirren abgestellt hatte, fuhr Claudia fort:

„Jede programmierte Erinnerung geht von einem erwarteten Ergebnis aus. Steigt der Druck, wünschen sich viele Menschen eine Entlastung. Die einen rauchen, andere beginnen auf und ab zu gehen und du suchst im Kauen Entspannung. In jedem Fall findet diese Ausgleichshandlung ganz ohne bewusste Überlegung statt.“

Das klang einleuchtend und nachvollziehbar. Claudia blickte mich über den Rand ihrer Tasse an: „Da du eine alte Gewohnheit, das Essen unter Druck, ‚entprogrammieren‘ möchtest, solltest du zuerst eine neue Gewohnheit programmieren, die später die alte Gewohnheit ablösen kann. Wie das genau funktioniert, erzähle ich dir gerne morgen am Abend, denn jetzt muss ich mich auf den Weg machen. Kommst du uns gegen sechs besuchen? Dann können wir gemeinsam zu Abend essen.“

Abendessen bei Claudia war ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. Die Sache war abgemacht und langsam wurde mir bewusst, dass ich trotz bester Vorsätze gar keine Ahnung hatte, welches Ziel ich durch weniger Körpergewicht verfolgte. Was würde ich mit mir anfangen, wenn ich Kleidung an den Übergrößen vorbei wählen könnte? Was würde ich mit der Zeit anfangen, die ohne kauen und verdauen zur Verfügung stünde? Sollte ich wieder aktiver Sport betreiben? Kaum konnte ich den nächsten Abend erwarten, der Antworten auf meine Fragen versprach.

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