Ich bin, was ich will

Neue Gewohnheiten formen

Während ich an einem weiteren Bissen Kimbap alle fünf asiatischen Geschmacksrichtungen genoss, setzte Claudia ihre Tasse ab und blickte mir tief in die Augen: „Wenn du eine alte Gewohnheit los werden möchtest hilft es sehr, sie durch eine neue und vor allem nützliche Gewohnheit zu ersetzen. Nehmen wir deine Gewohnheit, jeden Teller blitzeblank zu essen. Das an sich wäre ja keine große Sache, solange auf dem Teller nicht viel drauf ist, stimmt’s?“

Die rhetorische Frage gab ihr Zeit für einen Schluck Tee und mir, noch am Kimbap kauend, Gelegenheit, verstehend zu nicken. 

„Die Gewohnheit, den Platz auf dem Teller nur zur Hälfte zu nutzen, wäre also ein Kandidat für eine neue Gewohnheit. Damit sie sich für dich gut anfühlt, stellst du dir einfach den Nutzen eines halb leeren Tellers vor. Möchtest du es gleich probieren?“

Ein wenig hatte mich die Freundin auf dem linken Fuß erwischt. Ich hatte auf einen plätschernden Vortrag gehofft und war nun, unvermittelt zur aktiven Teilnahme aufgefordert, etwas ratlos. Da Claudia nichts mehr sagte und die Stille in mein Gewissen kroch, bemühte ich mich redlich, mir etwas Vernünftiges zu einem halb leeren Teller einfallen zu lassen: „Wenn am Teller weniger drauf ist, kann ich ihn leichter tragen.“

Claudias aufmunternder Blick zollte mir Beifall und ließ mich einen weiteren Punkt ansprechen: „Wenn’s am Besten schmeckt, sollte man aufhören. Meist ist die zweite Hälfte des Tellers ohnehin nur der Hoffnung gewidmet, es würde wieder so schmecken wie die ersten Bissen.“

Claudias gehobene Augenbrauen deuteten an, dass ich ihre Erwartungen übertroffen hatte. „Wenn ich so überlege“, fuhr ich, meinen eigenen Gedanken folgend, fort, „esse ich die zweite Hälfte der Mahlzeit nur in Hinblick auf eine etwaige Hungersnot später am Tag. Die allerdings nie passiert — viel häufiger kommt lange vor dem echten Hunger schon der nächste volle Teller.“ Der Gesichtsausdruck meines Gegenübers schaltete von Erstaunen auf Neugierde, was mich noch weiter herausforderte:

„Für mich läge der größte Nutzen eines halb leeren Tellers im Genuss jedes einzelnen Bissens. Ich könnte langsamer kauen und mich an den Geschmacksnoten erfreuen, statt zu schlingen, um mit den anderen aufgegessen zu haben.“

Dieser plötzlich einsetzenden Selbsterkenntnis hatte ich nicht hinzuzufügen, also angelte ich mir noch ein Scheibchen Kimbap und übergab damit das Wort an Claudia, die sich nicht bitten ließ: „Du hast das großartig zusammengefasst. Kleinere Mengen langsamer und genussvoller zu essen lässt sich sehr gut zu einer Gewohnheit machen. Am Anfang jeder neuen Gewohnheit steht eine neue Erinnerung. Dazu lässt man ‚vor dem inneren Auge‘ ablaufen, was man sich als Gewohnheit aneignen möchte.“

Der Einleitung ließ Claudia einen Schluck Tee folgen, bevor sie zur Sache kam: „Damit du nur den halben Teller füllst, denkst du an einen leeren Teller und wie du ganz gezielt wenige Bissen vorlegst…“ An dieser Stelle musste ich Genaueres wissen: „Du meinst. ich stelle mir vor, wie ich einen leeren Teller aus dem Schrank nehme und ein wenig von diesem und ein wenig von jenem vorlege, bis der Teller zu nicht mehr als der Hälfte gefüllt ist? Und davon werde ich leichter?“

Die Freundin lächelte: „Genau so ist es es, ja. Du solltest diese Visualisierung möglichst häufig wiederholen, wann immer du dafür eine halbe Minute Zeit hast. Schon bald kommt dir ein mehr als halb voller Teller seltsam vor. Zu Beginn kann der visualisierte Ablauf noch ganz einfach sein: Teller raus, halb voll vorlegen, Besteck aufnehmen, einen Bissen schneiden, mit der Gabel den Bissen in den Mund stecken, die Gabel wieder ablegen, genussvoll kauen, schlucken, das Besteck wieder aufnehmen den nächsten Bissen schneiden. Je öfter du das wiederholst, desto gewohnheitsmäßiger wird der Ablauf. Treten in der Praxis neue Umstände auf, kannst du die in den Ablauf aufnehmen. Zum Beispiel ab und zu einen Schluck trinken, am Tischgespräch teilnehmen — wie du die neue Gewohnheit ausgestaltest, bestimmst allein du.“

Ich war baff. Der ganze Abend bei Claudia war genau so abgelaufen. Das Besteck waren die Stäbchen, die nach jedem Bissen ganz selbstverständlich wieder abgelegt wurden. Die kleinen Schlucke zwischendurch und das langsame Kauen hatten mich viel früher satt gemacht als das üblichen Essen, wo ich auch nach einem opulenten Hauptgang immer noch Platz für ein Dessert hatte — und das hin und wieder mit einem unangenehmen Völlegefühl bereute.

Während ich mit meinen Gedanken noch bei dem geleerten Teller verweilte, kam Claudia aus der Küche zurück und stellte zwei kleine Dessert Teller auf den Tisch. Auf jedem lag eine Art pastos gefärbte Kugel, die essbar aussah. Zum Glück kam die Erklärung ohne zu fragen: „Das sind Mochis, süß gefüllte japanische Reiskuchen.“ Lächelnd setzte die beste Freundin von allen hinzu: „Mehr Dessert braucht man eigentlich nicht.“

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