Da stehe ich nun vor dem Spiegel und betrachte, welche Ausformung ich meinem Körper über all die Jahre angedeihen habe lassen. Damit meine ich weniger die Bemühungen von Roswitha, meiner Friseurin, sondern eher die Ergebnisse, die Produkte von Haubenköchen, Premiummarken und der einen oder anderen Fastfood-Kette gezeitigt haben. Wenn ich mich mit der Venus von Milo vergleiche, fallen mir ohne große Schwierigkeiten fünf oder sechs Unterschiede auf, die mich einzigartig machen. Oder die Venus von Milo.
Jeder Körper, so sagt man, sei einzigartig. Eine sehr ausgefeilte Balance zwischen Körpergewicht, Kraft, Energiereserven und Beweglichkeit stellt sich im Lauf der Lebensjahre ein. Bei meiner Balance habe ich allerdings etwas Mühe, den ausgefeilten Teil zu erkennen.
Energiereserven habe ich recht großzügig angehäuft, was sich im imposanten Körpergewicht ausdrückt und meine Beweglichkeit reicht spielend aus, um diese Masse in Bewegung zu setzen. Wäre da nicht dieser Punkt mit der Kraft, der mir vom letzten Wochenende, wo Veronika und ich einen kleinen Ausflug zum beliebten Gasthof „Taubenkober“ auf der Anhöhe im Norden unserer Stadt unternommen hatten, störend in Erinnerung geblieben ist.
Trotz zahlreicher Aussichtspunkte und gepflegter Parkbänke wurde die Überwindung dieser 120 Höhenmeter unter der Nachmittagssonne gefühlt zu einer Expedition. Eine Umkehr kam keinesfalls in Frage, da Veronikas Cousin im Ruf steht, die besten Profiteroles weit und breit anzubieten, doch der Preis des Genusses war nicht bloß in knisternden Scheinen und klirrenden Münzen zu benennen. Abgesehen vom bröckelnden Stolz und dem sehr atemlosen Gespräch mit Veronika wurde jeder Schritt des Anstiegs durch die an der Haut klebenden, schweißnassen Kleidung erschwert.
Während meine Gabel in die wirklich ausgezeichneten Profiteroles stach, zuckte ein Gedanke durch meinen Kopf: „Wieso war der Weg hierher so mühsam gewesen?”
Vom unerfreulichen Aufstieg blieb nur eine schwache Erinnerung, die erfreulichen Profiteroles hatten die Mühsal schon längst verdrängt. Auf dem Weg bergab nach Hause fühlte ich mich mit jedem Schritt wieder so beschwingt wie damals, als Tanzen und Schwimmen meine Leidenschaften waren. Alles war wieder gut.
Aber nicht für lange, doch das erzähle ich beim nächsten Mal.