Essen kann auch ganz anders
Überpünktlich stand ich vor Claudias Tür. Die Klingel zu drücken hatte ich allerdings noch nicht den Mut. Einerseits war das Angebot meiner Freundin, mir beim Abendessen etwas über meine Gewohnheiten zu erzählen, sehr willkommen. Andererseits wusste ich nicht so recht, ob ich das wirklich hören wollte. Und wenn ich Claudias gut gemeinte Tipps ignorieren würde, welche Auswirkungen hätte das auf unsere langjährige Freundschaft?
Bis auf die Möglichkeit, mich leise davon zu stehlen und mit belegter Stimme wegen eines Fieberschubs telefonisch abzusagen, fiel mir nichts ein. Bevor ich eine bessere Idee produzieren konnte, hatte ich schon die Stimme der Freundin im Ohr: „Entschuldige, Franzi, die Verspätung. Peter musste auf einen dringenden Flug nach Stockholm und der Verkehr …“ Mit blitzenden Augen fiel sie mir um den Hals: „Wartest du schon lange?“
Ein paar Minuten später saßen wir am Tisch, den Claudia mit allerlei Schälchen und Töpfchen und einer großen Kanne Tee gedeckt hatte. Irgendwie schaffte sie es immer wieder, mich zu verblüffen. Einerseits die Geschwindigkeit, mit der sie aus einem dämmrigen Zimmer ein gemütliches Zuhause produziert hatte, und andererseits das Eigenartige, das wohl unser Abendessen darstellen sollte.
„Das sind koreanische Banchan,“ kam mir Claudias Erklärung zur Hilfe, „kleine Häppchen, die von jedem am Tisch ganz nach Gusto genommen werden. Alle Häppchen sind vegetarisch, manche mehr, manche weniger pikant. So, bitte einen Moment, ich hole den Reis …“
Mit zwei kleinen Töpfchen am Tablet kehrte sie aus der Küche zurück: „Wenn du magst, kannst du mit den Stäbchen essen. Die sind wahnsinnig praktisch, wenn man sich quer über den Tisch etwas holen möchte.“ Mit einem schelmischen Blick führte sie mir vor, wie die blitzenden, metallischen Stäbchen den Arm so weit verlängerten, dass mit einem präzisen Griff ein Happen fein geschnittenes Irgendwas gepackt war. „Die Banchan legst du auf den Reis und isst dann die Portion“.
In der Zwischenzeit spürte ich den Appetit aufsteigen und da mir kein Esswerkzeug fremd ist, hatte ich schon den ersten Bissen gelblicher Nudeln aus einem der Schälchen zuerst auf den Reis und dann in den Mund befördert. Sofort tauchte ich in eine völlig neue Geschmackswelt ein. Die Nudeln waren offenbar keine, sie waren süß, aber pikant, bissfester und überaus erfrischend.
Während ich kaute, hatte Claudia ungehinderte Redezeit: „Das sind marinierte Kartoffelstreifen“. Während sie sich einige blanchierte Blätter angelte, fuhr sie fort: „Die koreanische Küche ist etwas ganz Besonderes. Und vor allem ist sie, obwohl hunderte Jahre alt, unglaublich modern. Aufgrund buddhistischer Regeln wird viel Gemüse auf den Tisch gebracht, was einer ausgewogenen Ernährung sehr entgegenkommt.“ Und schon verstummte sie wieder, mit einem Bissen Reis an grünen Blättern im Mund.
„Das schmeckt ja unglaublich,“ nutze ich meine Sprechzeit, „wie bist du denn an diese Rezepte gekommen?“ Claudia grinste verschmitzt: „Peter’s Geschäftsfreunde sind Koreaner und ich habe mich mit den Ehefrauen ausgetauscht, als wir einmal eingeladen waren.“ Sorgfältig prüfte sie den Tee und schenkte mir zuerst ein: „Das Tolle am koreanischen Essen - Hansik - ist neben der Leichtigkeit der Mahlzeiten die ungezwungene Lockerheit der Speisefolge. Es steht alles, von der Suppe bis zum Dessert, auf dem Tisch. Wer will, nimmt sich und zwischen den Bissen bleibt genug Zeit, sich zu unterhalten.“
„Und wie kommst du an die Zutaten?“ wollte meine detektivische Ader wissen.
„Einerseits liegt Korea ungefähr im selben Klima wie Mitteleuropa, es gibt also fast alles frisch am Bauernmarkt. Die spezielleren Soßen und Gewürze gibt es im Asia Shop — da die koreanische Küche sehr bescheiden ist, hat man alles, was man braucht, im Nu zusammen.“
„Aber das ist doch eine Menge Arbeit, so viele verschiedene Schälchen zu bereiten?“ machte sich meine besorgte Hausfrauenseele Luft. „Eigentlich gar nicht so viel,“ kam die Antwort, „mit etwas Übung weiß man schon, wie man das angeht und in längstens dreißig Minuten habe ich etwas am Tisch. Außerdem lassen sich die Banchan gut vorbereiten und halten im Kühlschrank mehr als einen Tag — es ist ja alles Gemüse, das nicht so leicht schlecht wird. Immerhin konnten die Koreaner über Jahrhunderte im heißen Sommer ohne Kühlschrank an den Rezepten feilen.“
Mit einem Schlückchen Hibiskusblütentee gestärkt schaltete die Freundin den Gesichtsausdruck auf sachlich: „Du hast dir sicher schon gedacht, dass diese koreanische Tafel kein Zufall ist? Als du mir von deinen Schwierigkeiten, weiter abzunehmen, erzählt hast, war mir klar, dass du noch einige Essgewohnheiten pflegst, die dir im Weg stehen.“
Ihre Stäbchen beförderten ein paar marinierte Gurkenscheiben auf den Reis, dann wanderte ihr Blick wieder zu mir: „Koreanisches Essen ist ein Beispiel dafür, wie ein umfangreiches Mahl zu vielen kleinen Bissen wird, bei denen man sich fast nicht überessen kann, weil zwischen den einzelnen Häppchen sehr viel mehr Zeit liegt als bei unserer Art des Tafelns.“
Die Worte meiner klugen Freundin ließen mich aufhorchen. Tatsächlich hatte sie auf den Punkt gebracht, was mich immer wieder überwältigte: in mich hinein schaufeln. Kaum war der Startschuss zu einem Essen gefallen, war ich emsig beschäftigt, Bissen um Bissen in mich zu versenken, bis der Teller leer war. Tischgespräche waren eher störend, weil dabei das Essen kalt wurde, und wenn die Portion auch deutlich zu groß war, ich war gewohnt, einen spiegelblanken Teller zu hinterlassen.
Ihre telepathischen Fähigkeiten schienen Claudia wie immer das Stichwort geliefert zu haben: „Auch das Aufessen ist in Korea eher unerwünscht. Statt wie bei uns mit einem geleerten Teller die Qualität des Essens zu loben, lässt man in Korea etwas auf dem Teller, um dem Gastgeber zu signalisieren, dass es an nichts gefehlt hat. Daher kann man in Korea das Mahl jederzeit beenden, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Und weil sich die meisten Gerichte so gut aufbewahren lassen, wird auch nicht viel weggeworfen.“
Schnell war die Zeit verflogen und wie zur Bestätigung legte Claudia ihre Stäbchen fein säuberlich auf dem Teller ab: „Ich habe dann noch eine Kleinigkeit vorbereitet, damit wir in Ruhe quatschen können.“ Den verschmitzten Blick kannte ich, und ich hätte ihr wieder einmal um den Hals fallen wollen. Claudia hatte einfach ein feines Gespür für den richtigen Zeitpunkt.
Einmal Tisch abräumen später verlegten wir das ärztliche Beratungsgespräch in die gemütliche Sitzgruppe, ein Tablett mit veganen Reisrollen vor uns. „Kimbap nennen das die Koreaner und es ist ein beliebter Snack, der dort gern als Jause zur Schule, zur Arbeit oder zum Sport mitgenommen wird. Von der in mundgerechte Scheiben geschnittenen Reisrolle kann man sich zwischendurch einen Bissen nehmen und die Dose wieder verschließen.“
Mehr und mehr erstaunte mich der kulinarische Weitblick des fernen Volkes. Köstliches veganes Fingerfood zum Mitnehmen klingt wie 21. Jahrhundert und doch gibt es das in Korea seit hunderten von Jahren.
Claudia strahlte mich an, als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen.
„Wenn du nachhaltig leichter leben möchtest, musst du alte Gewohnheiten durch neue ersetzen. Wenn du heute zu schwer bist, sind deine Essgewohnheiten und dein Lebensstil nicht im Einklang. Oft braucht es nur ganz wenig, um wieder mit sich in Harmonie zu kommen und am Besten geht das, wenn man sich neue, gesündere Gewohnheiten zu eigen macht.“